Kunst-Denken versus Welt-Lenken

von Dr. Peter Dimke, Institut für KunstForschung, 2022

zum Projekt "World Leader/ Weltlenker- Portraits"

… vor einiger Zeit bekam ich von Sabine Kürzel ein Kinderfoto eines kleinen Jungen zugeschickt, das sie im Internet gefunden hatte, - ich wusste nicht, wer das sein sollte - später löste sich das auf, indem aus dem Foto ein großflächiges Portrait von Donald Trump wurde, damit war der Zusammenhang deutlich: ach ja, der ist das …

•  mit dem Familienalbum auf den Knien ist es ähnlich: „sieh mal an, das ist Onkel Werner“ 

•  Sabine Kürzel malt und fotografiert, ist aber keine Malerin, keine Fotografin, sie ist eine konzeptionelle Künstlerin / dazu ein kleiner Exkurs:

•  1. konzeptuell beschreibt eher eine abgeschlossene Stilrichtung, die Konzeptkunst 

•  2. konzeptionell beschreibt die strukturellen Bedingtheiten im Umgang mit der bildenden Kunst 

•  3. bildende Kunst als Begriff ist bei Johann Gottfried Herder nicht auf die bildnerische Gestaltung eines Kunstwerks projiziert, sondern umgekehrt gesehen, nämlich, dass der Mensch es ist, der zu bilden sei durch die Künste

•  darauf kommen wir später im Text zurück, um zu überlegen, ob die Kunst eine bestimmte oder vorgegebene  Aufgabe haben kann, bzw. ob, wenn ja, sie so etwas auch erfüllen könnte bzw. abzulehnen hätte, um nicht als Illustration einer Ideologie zu gelten …

•  wie die Künstlerin die großen Leinwandbilder herstellt, beschreibt sie selbst, als ein Malen nach Zahlen … das können und machen Kinder und Andy Warhol gleichermaßen … das eine ist kinderleicht - das andere Kunst, Kunstmarkt, Kunstgeschichte … 

•  der Rückblick in die Kindheit aus der Sicht der erwachsenen Künstlerin ist typisch für eigentlich alles künstlerische Tun: das eigene subjektive Erleben ist Bestandteil, oft Kern der Arbeiten, die dann den Anderen, der Gesellschaft aufgezeigt werden und zum Vergleich, zur gedanklichen Aneignung zur Verfügung stehen … 

•  dieses Aufzeigen wird nicht psychologisch oder soziologisch begründet, es ist frei entworfen und in der Eigenart der Künstlerin umgesetzt … 

•  die zeitgenössische, bildende Kunst zeigt sich immer neu, ihr Interesse, ihr Anliegen ist nicht schon einmal „so“ dargestellt worden, hat einen bestimmten Punkt, eine Sichtweise, hat irgendetwas Besonderes noch nicht „derart“ aufgezeigt, sichtbar, erlebbar gemacht …

•  insofern sind die großen Portraits von Sabine Kürzel sehr schöne freie Arbeiten, die nur an ihre eigene subjektive Erinnerung gebunden sind - die sich aber den Betrachtern der monumentalen Leinwandbilder im Hinblick auf deren Familienalben immer wieder neu erschließen lassen … schon vor Zeiten äußerte sich Marcel Duchamp in diesem Zusammenhang: „die Betrachter machen die Bilder“ …

… sehen wir die übergroßen Portraits vor uns aufgestellt, vor uns aufgereiht, da stellt sich eigentlich nicht mehr die Frage: ja, die Kinder die Jugendlichen, was ist aus ihnen geworden ? sie sind die Weltlenker von heute, sie regieren die Welt, sie sind demokratisch gewählte Politiker oder autokratische Machtinhaber … wer hätte dereinst schon das gedacht ?

… eine derartige Zusammenstellung von heutigen Kindern, Jugendlichen, die dann in ein paar Jahrzehnten herrschen werden, ist nicht abzusehen, nicht möglich … also ist diese Sicht der Künstlerin, die mit den Mitteln der bildenden Kunst auf die Welt, auf das, was dereinst geschah, schaut, nicht auf das zu übertragen, was irgendwann einmal geschehen wird und kann also nicht der Sinn dieser Arbeit sein, es ist nicht der unmöglich mögliche Blick in die Zukunft … mit den Bildern, den Portraits schauen wir zurück, nur die Zeitnahme von damals bis heute ist angesprochen, sie endet im momentanen Innehalten …

… und in diesem Innehalten bin wirklich ich es, der sich von den Bildern entfernt, sich von den Bildern entfernen kann, zu sich selbst kommt, zu sich selbst kommen kann - um dann aus der eigenen Ferne wieder auf die Bilder zuzugehen, auf die Bilder zugehen zu können, denn das Ent-fernen der Ferne steckt ja in dem Wort: Entfernung … insofern ist diese Ausgeglichenheit zwischen Nähe + Distanz, dieses in-sich-selbst + in-einem-anderen sein, notwendig und bestätigt sich in den unterschiedlichen Sichtweisen auf die Portraits :

… ich gehe auf das Bild zu und das Gesicht verschwindet, zerfällt laut Malen nach Zahlen, teilt sich auf in eingeschriebene Flächen, täuscht uns dreidimensionale Höhenlinien vor, generiert sich als Isobaren, die dann, wie die Wetterkarte die Zukunft, den Werdegang der Kinder, der Jugendlichen vorzeichnen ( ? )

… wir treten wieder zurück, entfernen uns, sehen das Portrait, sehen die Portraits aus der Distanz, die uns die Größe der Bilder vorgibt, - so werden sie, trotz ihrer Herkunft aus dem Internet, von den Kinderfotos zu den Weltlenkern unserer Gegenwart …

… an diesem Punkt der Überlegungen angekommen, kann man gleichzeitig in den Portraits der Mächtigen die damaligen Kinder sehen, indem man die Augen zukneift, damit eine Unschärfe erzeugt und die gemalten Bilder auf die leibhaftig fotografischen Aufnahmen der damaligen Kinder und Jugendlichen zurückführen …