Vom befremdlichen Verfremden des Vertrauten

von Prof. Dr. Martin Damus, 2000

zu der Einzelausstellung "Harmony House", Galerie KunstWerk, Frankfurt/ M., 2000

Die Bilder und Objekte von Sabine Kürzel haben immer mit Gegenständen des täglichen Lebens, mit vertrauten Bildern und Mustern zu tun. Postkartenmotive hat die Künstlerin mit Karomustern kombiniert und Tapetenmuster in Malerei überführt. Geschirrtücher erscheinen als Bilder, die, wie Portraits von Geschirrtüchern, aufgereiht auf einem Regalbrett stehen. An Garderobenhaken hängen Stoffobjekte, halb Kleidungsstücke, halb plastische Gestalten so nebeneinander, als würden sie eine Familie bilden. Blumen, die als kleine Dekorelemente vertraut sind, kehren verfremdet als große Bildmotive wieder, und Ansichten vom Einfamilienhausbau werden in Malerei transformiert. Fotos, die die Montage eines Hausbaus dokumentieren, sind der Ausgangspunkt für Bilder, die das Gegenständliche schemenhaft stilisieren und gleichzeitig hervorheben. Auf diese Weise entstehen, in Verbindung mit der Reduktion auf wenige Farbtöne und einem glatten, das Flächige betonenden Farbauftrag, strenge Farb-Form-Kompositionen. Das kleine Sammelbild einer Margarinefirma diente als Vorbild für das Gemälde „Jäger mit Hund“, das die Szene in Anordnung und Umrissen präzis wiedergibt, doch etwas ganz anderes aus ihm macht.
Das Vermeiden aller auf  Natur verweisenden Farben, jeder Farbmodulation und Binnenzeichnung in Verbindung mit der strengen Flächigkeit der Malerei, überführt die Heimatfilmszene des Fotodrucks in ein artifizielles bildnerisches Ereignis.

Das Vergrößern und Herauslösen des Vertrauten und Alltäglichen aus gewohnten Zusammenhängen macht auf kaum oder nur nebenbei Wahrgenommenes und auf dessen Form – und Farbqualitäten aufmerksam. Auf diese Weise entsteht aus allseits Bekanntem etwas ganz Neues. So hat Sabine Kürzel Blumenmotive von kleinteiligen Tapeten isoliert, vergrößert, verflächigt und auf große Leinwände übertragen. Die vereinzelten, jeweils in zwei Farbtönen mit matter Acrylfarbe gemalten Blumenmotive gewinnen auf der weiten glänzenden, in Lack ausgeführten Farbfläche eine neue, ganz eigene Qualität. Als Bildtitel dienen die Namen der Tapeten, denen die Blumen entnommen sind, erweitert durch die Hinzufügung „groß“: „Big Camellia“, „Big June Wedding“ usw...

Bei den Geschirrtuchbildern dient Sabine Kürzel jeweils ein Geschirrtuch als verbindliche Vorlage für ein Bild. Sie übernimmt Größen und Formate, hält sich aufs Genaueste an die allbekannten Muster und Farben der „Vor“bilder. Alles ist originalgetreu. Doch malt die Künstlerin die Streifen, die Muster oder Karos glatt und mit deckender Farbe auf den glatten weißen Grund. Auf das stoffliche des Stoffs der Geschirrtücher geht sie nicht ein. So entstehen abstrakt geometrische Bilder, die wie Geschirrtücher aussehen, weil ihre Komposition mit den Mustern von Geschirrtücher identisch ist. Diese Bilder können Assoziationen wie tägliche Arbeit, Sauberkeit und Ordnung wecken, Erinnerungen u. a. an die Wohnküche der Großmutter wachrufen und das Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit ansprechen. Doch die Assoziationen und Erinnerungen werden gestört, die Gefühle gebrochen, insofern die Geschirrtücher starr wie Bretter auf einer Konsole stehen und nebeneinander an der Wand lehnen. Das Vertraute wird verfremdet und damit als Sicherheit und Geborgenheit vermittelndes in Frage gestellt. Das Vertraute schlägt um in Befremdliches.

Die drei bunten Stoffobjekte, die nebeneinander an Garderobenhaken hängen und aussehen wie personifizierte Kleidungsstücke, vermitteln das Bild von einer Musterfamilie, auch wenn das in der Mitte hängende grüne Objekt für sich weder Ähnlichkeiten mit einer Person noch mit einem Kleidungsstück hat. Ganz aus dem Rahmen des Familienbildes der „Bunten Garderobe“ fällt das „Variable Objekt“, das sich nicht einreiht, dem aber auch kein Garderobenhaken zur Verfügung steht, das sich in Konsistenz und Erscheinungsweise dem Familienbild nicht fügt. Das „variable Objekt“ isoliert sich und wird isoliert, hockt in der Ecke oder liegt abseits am Boden. Wenn es sich denn doch einreiht in die Ordnung der „Bunten Garderobe“, fällt es in besonderer Weise als Außenseiter auf. „Bunte Garderobe und variables Objekt“ sehen sehr menschlich aus, obwohl von Menschen nichts zu sehen ist.

Immer geht Sabine Kürzel von Alltäglichem, von Vertrautem aus. Das trifft selbst da zu, wo sie abstrakt malt. Ihre abstrakten Bilder erinnern an Dekostoffe oder Dekopapiere und sind doch Bilder im Sinne von Images. Die Künstlerin geht auf ganz unterschiedliche Weise von Vorgegebenem aus, spielt auf tradierte Verhaltensmuster an und verwendet vorgefundene und überlieferte Muster als Bildmotive. Diese werden einmal drastisch überdimensioniert und verflüchtigt, ein anderes Mal gerade kaum merklich, allein durch den Farbauftrag und die Objekthaftigkeit des Bildes verfremdet. Der ästhetische Reiz der Kunst von Sabine Kürzel liegt in der jeweilig spezifischen Differenz zwischen Bild und Vorbild, in dem Befremdlichmachen des Vertrauten.